Lil Miquela ist eine 19-jährige Halbbrasilianerin, Halbspanierin, die in LA lebt. Sie interessiert sich für Mode, geht gerne aus, trifft sich mit ihren Freunden, hat Liebeskummer, singt, modelt. Ihr eigentlich ziemlich normales, etwas Daily-Soap-haftes Leben teilt die makellose Schönheit mit den süßen Sommersprossen auf Instagram. Und erreicht dort inzwischen über drei Millionen Follower. Abgesehen von ihrer außergewöhnlich hohen Reichweite und dem verdächtig perfekten Äußeren hat Lil Miquela noch eine Besonderheit: Sie ist nicht echt.
Lil Miquela ist eine 2016 vom kalifornischen Technologie-Startup Brud ins Leben gerufene virtuelle Influencerin. Zwei Jahre lang rätselte ihre Community darum, ob sie auf ihren Fotos nur sehr stark bearbeitet ist oder komplett computergeneriert. Auf den ersten Blick merkt man zwar, dass hier irgendwas nicht ganz stimmt, aber da Fotofilter und Retusche auf Instagram nichts Ungewöhnliches sind, kann man ja nie genau sagen, was echt ist und was fake. Ungeschönte Wahrheiten erwartet hier längst keiner mehr.
In einem spektakulären Showdown, der auch aus GZSZ hätte stammen können, hackte schließlich 2018 ein vom gleichen Unternehmen erfundener Charakter namens Bermuda vorgeblich den Account von Lil Miquela und erpresste sie mit der Offenlegung ihrer Identität. Daraufhin gab Lil Miquela zu, ein Roboter zu sein. Heute sind sie und ihre Erpresserin beste Freundinnen.
Man kann über virtuelle Influencer sagen, was man will – sie bieten Daily-Soap-Drehbuchautoren ein neues zu Hause. Nach Lil Miquelas Enttarnung gab es einen kurzen Sturm der Entrüstung, während ihre Followerschaft einfach unbeeindruckt wuchs und wuchs. Lil Miquela hat weiter gemodelt, gesungen, sich mit echten Stars aus Fleisch und Blut ablichten lassen, Musikvideos produziert und Interviews gegeben. Und ihren Machern nebenbei Millionen an Dollar Werbeeinnahmen beschert. Calvin Klein, Samsung Galaxy, Adidas und Prada sind nur einige der Marken, mit denen sie schon zusammengearbeitet hat.
Künstliche Gesichter, pathetische Botschaften, echte Emotionen
Bei einem solchen Erfolg konnten Lil Miquela und Bermuda natürlich nicht die einzigen ihrer Spezies bleiben. Viele weitere virtuelle Influencer folgten. Vor allem in asiatischen Ländern sind sie beliebt. Eine Erkenntnis aus dem Versuch mit Lil Miquela schien zu sein, dass man sich gar nicht erst die Mühe machen muss so zu tun, als handele es sich um eine echte Person. Echten Personen ist das offenbar egal. Man himmelt ja schließlich auch die Charaktere aus seinen Lieblingsfilmen und Serien an, obwohl man weiß, dass die nicht echt sind. Und so steht in den Bios entsprechender Instagram-Profile inzwischen auch frei heraus „robot“, „digital character“ oder „virtual influencer“. Fast könnte man meinen, dass hier auch ein bisschen die Diversity-Karte gespielt wird. Wer möchte heutzutage schon jemanden diffamieren, nur weil er etwas anders ist? Zwar gibt es immer wieder Kommentare dazu, dass es sich doch bloß um Roboter handele, aber nicht nur in Lil Miquelas Community sind auch viele mitfühlende Nachrichten zu lesen und Beistandsbekundungen wie: „Robot or not, you deserve to be loved by others!!!“
Bei dem virtuellen, in München kreierten Model Noonoori mit den zu großen Augen und dem püppchenhaften Körper hat man bewusst auf eine allzu große Menschen-Ähnlichkeit verzichtet. Man sieht auf den ersten Blick, dass Maus und Tastatur ihr Leben einhauchen – was ihren Schaffern Raum für die Darstellung des perfekten Kindchenschemas gibt. Noonoori ist nicht nur Model und arbeitet für große Modemarken wie Dior und Versace, sie ist auch Veganerin und Aktivistin und für den Weltfrieden. Wie wichtig es als Model ist, auch für den Weltfrieden zu sein, weiß man ja schon lange von amerikanischen Schönheitswettbewerben. Auch Lil Miquela gibt sich mit einer progressiven politischen Haltung und viel sozialem Engagement Profil. Man möchte sich schließlich nicht vorwerfen lassen müssen, nur eine hohle Marionette zu sein, virtuell hin oder her. Tatsächlich transportieren virtuelle Influencer oft mehr Botschaften und mehr „eigene“ Agenda als echte Influencer.
PR goes VR
Die virtuelle Realität bietet viele Möglichkeiten für PR und Marketing, die bereits genutzt und stetig erweitert werden. Die sich rasant entwickelnde Technik dahinter wird zugänglicher und im größeren Stil nutzbar. Dennoch darf man nicht den Fehler machen zu meinen, dass Avatare wie Lil Miqualea und Noonoori mal ebenso entstanden sind und sich nun jeder selbst seinen virtuellen Influencer schaffen und drei Millionen Follower in seinen Bann ziehen kann. In diesen Projekten steckt eine ganze Menge Arbeit von vielen echten Menschen, und zwar nicht nur in der Technik, sondern vor allem im Content, im Storytelling. In der Ausgestaltung der Persönlichkeit und ihres Lifestyles. Es ist die Nahbarkeit, die Verletzlichkeit, die Menschlichkeit, die virtuelle Influencer so anziehend macht.
So mag es zwar ein Trugschluss sein, dass für Unternehmen der Vorteil virtueller Influencer darin läge, dass man ihnen kein Honorar zahlen muss. Sind die entsprechenden Kapazitäten vorhanden, ergeben sich aber eine Reihe von anderen Vorzügen: Virtuelle Influencer altern nicht (oder nur wenn gewünscht), sie sind allzeit verfügbar, kontrollierbar und können genau das darstellen, was ein Unternehmen darstellen will. Sie können die perfekten Markenbotschafter sein oder sogar als Mitarbeiter des Unternehmens auftreten und direkt mit der Zielgruppe interagieren.
Nicht neu, nur logisch
So absurd wie das alles auf den ersten Blick anmutet, ist es auf den zweiten – oder naja, sagen wir auf den fünften – nicht mehr. Die Fiktion als Sehnsuchtsort ist so alt wie die Menschheit. Schon immer haben wir uns gern Geschichten erzählt, Bücher gelesen, uns in fremde Welten entführen lassen und Personenkult betrieben. Kindern erzählen wir bis heute vom Weihnachtsmann – sicher gibt es auch den bald als virtuellen Influencer, powerd by Coca Cola. Barbie und Minni Mouse gibt es jedenfalls schon.
Film, Fernsehen und Computerspiele eröffneten im 20. Jahrhundert neue Möglichkeiten für die Realitätsflucht als Auszeit vom Alltag. Virtuelle Influencer sind nur die konsequente Weiterentwicklung im 21. Jahrhundert. Wie wichtig ist die Wirklichkeit – und vor allem wann und wo? Ging es bei Instagram nicht schon immer um eine Welt, wie sie uns gefällt? Um „Storys“? Welche Rolle spielt es, wer sie uns erzählt, wenn sie gut sind?
Virtuelle Influencer sind wie Popstars 2.0. Sie schreiben ihre Lieder vielleicht nicht selbst, aber sie performen sie gut.
Und nur wer meint, dass hier schon Schluss ist, lebt wahrhaftig in einer Fantasiewelt.
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In unserer Vorausdenker-Kolumne 2022 haben wir uns außerdem mit diesem spannenden Thema beschäftigt: Was Visionäre auszeichnet und was man von ihnen lernen kann.