Schon bevor man zum Inhaltsverzeichnis vordringt, wird klar, dass es sich bei dem über 250 Seiten starken, gebundenen Werk um mehr als einfach nur noch ein weiteres Kochbuch mit Rezepten aus der bayerischen Küche handelt. Es ist vielmehr ein abwechslungsreiches Gesamtwerk mit vielen spannenden, gut geschriebenen Geschichten und Hintergrundinformationen über die Ursprünge und Entwicklung der bayerischen Küche. Es ist eine lesenswerte Genussreise mit vorbildlichen Köchinnen und Köchen sowie deren Produzentinnen und Produzenten, die Bayerns Küche in ein neues Zeitalter führen. Man bekommt viele Gedankenanstöße über eine dringend notwendige Veränderung unseres Konsums von Lebensmitteln. In dreizehn Kapiteln sind zwanzig Geschichten nach dem Motto „Vom-Produzenten-über-den-Koch-zum-Teller“ verpackt, die einen inspirierenden Eindruck über die neuen Entwicklungen, ihre Partner und Lieferanten geben und zum Experimentieren in der eigenen Küche anregen.
Heinersreuther Hof: Freiraum für Lebensmittelmacher
Der bayerische Cluster für Ernährung am KErn in Kulmbach befasst sich intensiv mit Innovationen in der Ernährungswissenschaft, sprich der Zukunft der Ernährung, und war Mitinitiator für das Buch. Das Projekt „Junge bayerische Küche“ soll unter der Federführung des Clusters Ernährung die Zusammenarbeit von Gastronomen und Bauern, Gärtnereien und Fischereien fördern. Im Heinersreuther Hof (Institution der Adalbert-Raps-Stiftung und Herausgeberin des Buches), einem bäuerlichen Gebäudeensemble, hat das KErn einen Raum gefunden, der zukünftig eine Art Begegnungsstätte, ein Brain- und Workpool für Protagonisten aus der Szene sein soll, die gemeinsam in Workshops neue Ideen rund um die Küche und Ernährungswirtschaft entwickeln wollen. Dieser wurde zum Einstieg in das Buch ausführlich vorgestellt.
Von Scouts, Gärtnern, Zugereisten und Selbermachern
Der Leser wird in dreizehn Kapiteln an die Hand genommen und erlebt einen Heumilchbauern, Gärtner, eine Tortenmacherin, Landmetzger, Fischer und viele mehr, denen das Tierwohl und die Tradition genauso wichtig sind wie neue Herangehensweisen an die Lebensmittelherstellung. Man bekommt viele Konzepte unterschiedlichster Köche vorgestellt, die ihre Vision in handfesten Rezepten demonstrieren. Man erfährt, dass es sich beim Knödel, für jeden die Sättigungsbeilage der bayerischen Küche, eigentlich um einen Einwanderer und keine ureigene Erfindung der Bayern handelt. Es wird beschrieben, welche Evolution die Dorfwirtschaft erfahren hat und wie sich Jürgen Dollase, der einflussreichste deutsche Gastronomiekritiker, die bayerische Küche und Gastronomie im Jahre 2050 vorstellt, also quasi eine Culinary-Fiction-Story. Für mich als Biersommelier hatte natürlich das Kapitel dreizehn die größte Anziehungskraft. Hinter der Überschrift „Ohne Bier keine Kultur“ wurde bei einem Besuch bei der Bio-Brauerfamilie Ehrnsperger, Neumarkter Lammsbräu, deren Vision und Entwicklung aufgerollt. Und für mich war hier auch viel Neues dabei.
Nichts für Anfänger
Vor den Rezepten habe ich großen Respekt und muss ehrlich gestehen, dass ich mich beim Nachkochen nur an zwei meiner Meinung nach noch relativ einfachen Gerichten versucht habe. Sie sind alle auf einem sehr hohen Niveau und es braucht schon eine gewisse Vorkenntnis und Erfahrung in der Küche, um die Gerichte auch nur annähernd so arrangiert zu bekommen, wie sie in den Bildern vorgestellt werden. Die bekannten Protagonisten aus der Küche müssen natürlich ihren Ruf als bekannte Spitzenköche oder außergewöhnliche Konditoren verteidigen. Aber alle Rezepte sollten als Herausforderung und Inspiration verstanden werden und nicht abschrecken. Auch wenn man die Speisen nicht auf dem vorgegebenen Niveau arrangiert bekommt, werden sie schmecken und die Freude am Kochen und der Genuss sind am Ende das, was zählt.
Tiefgründiges Lesevergnügen trifft auf die hohe Kunst der Küche
Mein Fazit: Bei diesem Werk handelt es sich um ein wunderbares Geschenk für Menschen, die an der Geschichte der bayerischen Küche und Geschichten von Machern, die in den kommenden Jahren die bayerische Küche revolutionieren werden, interessiert sind. Menschen, die nicht nur Vorlagen zum Nachkochen in der Hand halten, sondern sich intensiv mit der Entwicklung und Veränderung auseinandersetzen wollen, die uns in der nahen Zukunft in der bayerischen Gastronomie erwarten werden. Menschen, die teilhaben wollen an dem Wandel einer bisher eher beharrlich konstanten Küche. Es ist definitiv kein Buch, aus dem ein, zwei Gerichte gekocht werden, und das dann im Bücherschrank verschwindet, sondern eines, das man immer mal wieder zum Schmökern hervorholt, also mehr ein Lese- als ein Kochbuch. Hier die genauen Daten für den Kauf:
Thomas Ruhl: Die junge bayerische Küche. Von Tradition und neuen Einflüssen; 256 Seiten; Edition Port Culinaire, 2021; ISBN: 978-3-94731-095-1; geb. Hardcover, 29,90 Euro
Wer gerne kocht und das nicht als Belastung, sondern als Freude und Entspannung betrachtet, und sich besonders für die bayerische Küche interessiert, dem legen wir unseren Beitrag über das Kochbuch „Sonntags Braten: Heute wird einfach nur geschlemmt!“ von Starkoch Andreas Geitl ans Herz.