Wenn man in Deutschland ein Rosinenbrot kauft, kann man sich sicher sein, dass der Bäcker mindestens fünfzehn Prozent Rosinen im Teig verbacken hat. Bei einem Sonnenblumenbrot kann man mindestens 8 Prozent der leckeren Kerne erwarten und in einem veganen oder vegetarischen Lebensmittel muss an einer gut sichtbaren Stelle deutlich und klar lesbar auf die maßgebliche ersetzende Zutat (im Vergleich beispielsweise zum geläufigen Fleischprodukt) hingewiesen werden, das Produkt also „(…) mit Erbsenprotein“ oder als vegetarische Lupinen-Bratwurst bezeichnet werden.
Warum können wir in Deutschland sicher sein, dass so viel drin ist, wie die Bezeichnung es erwarten lässt? Weil in 22 Leitsätzen im Deutschen Lebensmittelbuch (DLMB) all diese Dinge genau geregelt sind und sich die Hersteller nach den Vorgaben richten müssen. Innerhalb dieser Vorschriften haben Lebens- und Getränkemittelhersteller dennoch einen gewissen kreativen Spielraum bei der Rezeptentwicklung. Ein Brot mit weniger als acht Prozent Sonnenblumenkernen kann als tolles Genussprodukt beim Bäcker über die Ladentheke gehen, darf dann nur nicht als Sonnenblumenbrot ausgezeichnet, sondern muss mit einem Fantasienamen, einer beschriebenen Namensgebung, versehen werden. Ein „Tante-Erna-Erntebrot mit Sonnenblumenkernen auf Weizenbasis“ kann so ein Brot sein, in dem weniger als 8 Prozent Sonnenblumenkerne enthalten sind.
Was genau steckt nun hinter den Leitsätzen, wie kommen sie zustande und wer trifft die Entscheidung, welche Zutaten in welcher Menge in welchen Lebensmitteln und Getränken enthalten sein dürfen? Und wie aktuell sind diese Leitsätze, da sich die Ernährungsformen und auch die Produkte weiterentwickeln und sich, Trends geschuldet, kontinuierlich verändern? Der Zeitgeist wird in jedem Fall berücksichtigt, so wurden im Dezember 2018 die „Leitsätze für vegane und vegetarische Lebensmittel in Ähnlichkeit zu Lebensmitteln tierischen Ursprungs“ veröffentlicht. Genau zu einer Zeit als die Proteste bei Verbraucherschutzorganisationen dahingehend lauter wurden, dass Verbraucher durch verschiedene Lebensmittel auf dem Markt verunsichert sind und nicht nachvollziehen können, ob in einem Produkt, das in der Verkehrsbezeichnung den Begriff „Geschnetzeltes“ enthält, auch wirklich keine Zutat tierischen Ursprungs enthalten ist.
Etwas ganz Besonderes
Das Deutsche Lebensmittelbuch ist innerhalb Europas in dieser Form und Konsequenz einzigartig. Es stellt eine Sammlung von mittlerweile 22 Leitsätzen dar, in denen die Herstellung, Beschaffenheit sowie sonstigen Merkmale von Lebensmitteln und Getränken, die für die Verzehrfähigkeit von Bedeutung sind, klar geregelt und detailliert beschrieben sind.
Die Leitsätze ersetzen keine Verordnung und stehen nicht über einem Gesetz, da sie keine Rechtsnormen sind, sondern stellen eine Orientierungshilfe für den Handel mit und die Kennzeichnung von Lebensmitteln dar. Sie haben den Charakter objektivierter Sachverständigengutachten, die der gerichtlichen Nachprüfung unterliegen. In den Leitsätzen wird die Verkehrsauffassung der am Lebensmittelverkehr Beteiligten, also Hersteller, Überwacher, Inverkehrbringer und Wissenschaftler, beschrieben und dabei zudem die Erwartung der Durchschnittsverbraucher an die betreffenden Lebensmittel und Getränke berücksichtigt. Wenn nun in Brüssel eine neue Empfehlung oder Verordnung zu einem Lebensmittel beschlossen wird, mit der Auflage an die europäischen Länder diese in einer gewissen Zeit in nationales Recht umzuwandeln, dann muss dem auch in Deutschland Folge geleistet werden. Beispiel: Beschließt die EU eine Erfrischungsgetränke-Verordnung, dann wird es in naher Zeit in Deutschland auch eine solche geben und damit den Leitsatz für Erfrischungsgetränke im Deutschen Lebensmittelbuch ersetzen. Dieser ist dann nicht mehr gültig und für die Hersteller bindend, sondern die neue Rechtsnorm in Form einer Erfrischungsgetränke-Verordnung.
Die Köpfe dahinter
Das Deutsche Lebensmittelbuch wird ausgearbeitet von der Deutschen Lebensmittelbuch-Kommission in mehreren Fachausschüssen und veröffentlicht vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL). Gesetzliche Grundlage sind § 15 und § 16 des Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände- und Futtermittelgesetzbuches (LFGB). Trotz des Namens darf man sich das Deutsche Lebensmittelbuch nicht als zusammenhängendes Buch vorstellen, sondern als Sammlung der Leitsätze. Neue und veränderte Leitsätze werden nach ihrer Verabschiedung im Bundesanzeiger veröffentlicht. Die Deutsche Lebensmittelbuch-Kommission (DLMBK) ist ein gesetzlich verankertes, unabhängiges Gremium, das bereits seit 1962 besteht. 32 Vertreterinnen und Vertreter aus den Bereichen Lebensmittelüberwachung, Wissenschaft, Verbraucherschaft und Lebensmittelwirtschaft bilden die Kommission. Sie werden aufgrund ihrer fachlichen Qualifikation sowie ihrer beruflichen Position von BMEL in die Kommission berufen und erarbeiten in Fachausschüssen die Leitsätze. Vor über 50 Jahren stellte sich die Deutsche Lebensmittelbuch-Kommission in der ersten Sitzung der Aufgabe, die Verkehrsauffassung, also die Zusammensetzung und den redlichen Herstellungs- und Handelsbrauch der Lebensmittel wie auch die berechtigte Verbrauchererwartung an Lebensmittel, zu beschreiben. Da nichts beständiger ist als der Wandel, ist dies eine Daueraufgabe der Deutschen Lebensmittelbuch-Kommission.
Neben diesen klaren Fakten wollten wir wissen, wie die Arbeit in einer Kommission ausschaut und welche Qualifikation notwendig ist, um in eben diese berufen zu werden. Darüber haben wir mit Dr. Sieglinde Stähle, Mitglied der deutschen Lebensmittelbuchkommission, gesprochen.
Frau Dr. Stähle, Sie sind Mitglied der Kommission und dort in der Gruppe Wirtschaft gemeinsam mit sieben Kollegen aktiv. Wie wird man in die Kommission berufen?
Das Ministerium hat einen eigenen Kriterienkatalog, nach dem die Berufung erfolgt. Natürlich kann man sich bei der Bundesregierung auch um einen Sitz in der Kommission bewerben, wenn man die Kriterien erfüllt, also beruflich noch aktiv ist, die fachlichen Hintergründe mitbringt und in Anspruch nehmen kann, eine der vier Interessensgruppen zu vertreten. Die Kommission mit den vier Gruppen Verbraucherschaft, Lebensmittelüberwachung, Wirtschaft und Wissenschaft stellt eine Abbildung der relevanten Marktbeteiligten dar. Innerhalb der Wirtschaftsvertreter sollte dann die Wertschöpfungskette abgebildet werden, von der Landwirtschaft bis zum Einzelhandel. Es gibt auch eine Altersgrenze. Wenn man in den Ruhestand geht und damit nicht mehr aktiv im Berufsleben ist, ist man laut Geschäftsordnung nicht mehr berufbar in die Kommission, weil man in der Regel dann keine Rückkopplung in die relevante Interessensgruppe, die man vertritt, mehr vorweisen kann.
Wie viel Zeitaufwand ist erforderlich, wenn man Mitglied der Kommission ist? Und wird der zeitliche Aufwand finanziell erstattet?
Die Arbeit in der Kommission ist ein Ehrenamt. Bei der Berufung durch das Ministerium wird klar formuliert, dass die Mitglieder ca. 17 Arbeitstage pro Jahr als reine Sitzungstage mit Präsenz einbringen sollten. Hinzu kommt dann natürlich noch die Vor- und Nacharbeit, also die Abstimmungen, z.B. in die Branchen oder mit Sachkundigen. Es ist daher schon ein großer Zeitaufwand, dessen man sich bewusst sein muss, wenn man die Berufung annimmt.
Wie lange dauert es von der Feststellung, dass aufgrund des Zeitgeists oder eingereichter Anträge neue Leitsätze für eine neue Kategorie von Lebensmitteln oder die Überarbeitung bestehender Leitsätze notwendig sind, bis zur fertigen Formulierung?
Hier kann ich keine pauschale Angabe machen. So sind die Leitsätze für Brot und Kleingebäck beispielsweise 20 Jahre nahezu unverändert gültig gewesen, bevor sie kürzlich grundlegend überarbeitet wurden. Als Durchschnittswert kann man vielleicht sagen, dass es zehn Jahre dauert, bis ein Leitsatz von der Kommission wieder überarbeitet wird. Sie müssen wissen, dass das ein sehr aufwändiger und lang dauernder Prozess ist, bis man sich auf die neuen Inhalte und die Formulierung mit allen Interessensgruppen geeinigt hat. Ein Beispiel ist die Überarbeitung der Leitsätze zu Fisch, die bereits seit Jahren läuft.
Wie muss man sich die Arbeit in den Fachausschüssen vorstellen und wie läuft ein Verfahren zur Überarbeitung eines Leitsatzes ab?
Über die Webseite der Lebensmittelbuch-Kommission können Anträge auf Änderung von Leitsätzen mittels eines Formulars gestellt werden. Über die Bearbeitung eines solchen Antrags entscheidet dann das Präsidium und übergibt die Aufgabe dem zuständigen Fachausschuss. Zur Klärung von Sachfragen werden üblicherweise auch Sachkundige einbezogen. Einigt sich ein Fachausschuss auf die Änderung eines bestehenden Leitsatzes oder auf einen neuen Leitsatz, erhält die Öffentlichkeit die Möglichkeit zur Stellungnahme. Das ist das sogenannten Beteiligungsverfahren. Nach erneuter Beratung und Verabschiedung im Fachausschuss wird die Kommission um Entscheidung über den Leitsatzentwurf gebeten. Die Sitzungen und Diskussionen in den Gremien der Deutschen Lebensmittelbuch-Kommission sind vertraulich, damit die Kommissionsmitglieder offen und ohne Druck von außen diskutieren und entscheiden können. Um die Öffentlichkeit dennoch über die Ergebnisse zu unterrichten, veröffentlicht jeder Fachausschuss Zwischenergebnisse in Form von Sachstandsberichten. Als Vertreterin eines Verbandes ist die Vertraulichkeit mitunter schwierig; Fachverbände und Unternehmen wollen gerne gut informiert sein und gleichzeitig muss man die Interessen kennen. Das ist auch der Grund, warum man noch aktiv im Berufsleben sein muss. Man braucht Rückkopplung aus der Branche, die man vertritt. Nach erfolgreichem Abschluss der Arbeiten sind die Ergebnisse als neue oder aktualisierte Leitsätze für jeden öffentlich zugänglich.
Welcher Leitsatz müsste Ihrer Ansicht nach in der nahen Zukunft überarbeitet werden?
Hier sehe ich den „Leitsatz für Puddinge, andere süße Desserts und verwandte Erzeugnisse“ und den „Leitsatz für Feine Backwaren“ ganz weit vorne. In diesen Bereichen hat sich seit Erarbeitung der aktuell gültigen Versionen sehr viel getan. Bei den Desserts handelt es sich um einen grundsätzlich neu entstandenen Markt, wenn man sich die Produkte in den Regalen der Supermärte anschaut. Aber beides ist bereits auf der Agenda.
Wissen die Verbraucher, dass es die Leitsätze gibt und haben diese im Wortlaut vor Augen, wenn sie einkaufen gehen?
Meiner Meinung nach muss der Verbraucher die Leitsätze nicht im Detail kennen. Hauptsache sie werden von Herstellern und Überwachung beachtet, dann ist der Verbraucher Nutznießer. Er muss sie im Originaltext nicht nachvollziehen können. Leitsätze beschreiben die Verkehrsauffassung, die auch berechtigte Verbraucherwartungen umfasst. Verbraucher wissen ja auch um die Sicherheit der Lebensmittel, jedoch nicht, welche Regelungen im Einzelnen dahinterstehen. Ich gehe mal davon aus, dass auch kein Bürger die Straßenverkehrsordnung im Detail auswendig kennt, und doch verhalten wir uns im Straßenverkehr entsprechend den Regeln.
Wer ein wenig intensiver in die Bezeichnung und sensorische Beschreibung von Broten und Kleingebäck eintauchen möchte, dem legen wir das Standardwerk der Brot-Sommeliers ans Herzen.