Es herrscht Handlungsbedarf: Unsere Ernährung und Umwelt stehen auf der Agenda der Politik, der Wissenschaftler und am Ende auch auf unserer eigenen. Wir werden dicker, ungesünder und zerstören unsere Umwelt. Ziemlich dramatisch ausgedrückt, aber dieser Realität müssen wir uns stellen. Nudging lautet für viele die Lösung. Es ist der Stups, der uns zu einem „besseren“ Verhalten bringen soll. Es gibt bereits einige Ansätze, die sich als wirkungsvoll zeigen. Wie sieht es aber beim Nudging in der Ernährung aus? Das KErn Wissenschaftsseminar hat sich einen Tag lang mit dieser Thematik auseinandergesetzt. Wir haben euch einige der spannenden Vorträge zusammengefasst.
Nudging – Was ist das? Blick über den Tellerrand: Initiativen im In-und Ausland
Dr. Kai Purnhagen, Universität Wageningen
42 Prozent der Menschen weltweit wollen Gewicht verlieren, wobei nur 20 Prozent derer, die das geschafft haben, ihr Gewicht auch halten. Mit diesen steigt Dr. Kai Purnhagen in seinen Vortrag ein. Ob und wie Nudging helfen kann, die Ernährung und Gesundheit zu beeinflussen, ist die elementare Frage des Tages. Davor muss allerdings verstanden werden, was hinter Nudging steckt und wie es funktioniert. Wichtig hierfür ist die Architektur der Wahl, der Entscheidungskontext. Jeder von uns hat Präferenzen, diese bleiben gleich, und wenn wir in einer Welt ohne Anreize leben würden, würde unsere Entscheidung immer gleich unserer Präferenz sein. In der Realität beeinflussen allerdings positive und negative Anreize unsere Entscheidungen. Ziel des Nudgings ist es also, positive Anreize zu verstärken und/oder negative Anreize zu vermindern. In Bildern gesprochen redet das Nudging dem Engelchen auf unserer Schulter zu und hält dem Teufelchen den Mund zu.
Kernelemente eines Nudges:
- Nudging soll zu einem sozial wünschenswerten Ziel führen.
- Nudging ersetzt keine Entscheidung.
- Nudges sollten kostengünstige Lösungen sein, welche ohne großen Aufwand in die Architektur eingebracht werden können.
- Nudges müssen auf robuste Empirie gestützt sein.
Nach ein paar Beispielen aus der Praxis, wie abschreckende Bildchen auf Zigarettenverpackungen, Angaben des Energieverbrauchs auf Haushaltsgeräten, einem Programm in UK, das Menschen zum Aufräumen ihres Dachbodens motivieren sollte, macht Dr. Purnhagen noch eines deutlich: Nudging muss transparent sein. Entgegen der Annahme, dass Nudging nur funktioniert, wenn der Mensch nicht weiß, dass er gestupst wird, funktionieren Nudges, die transparent sind, sehr effektiv.
Von der Zuckersteuer über Empowerment bis hin zu Nudging: Einordnung unterschiedlicher ernährungspolitischer Maßnahmen
Prof. Dr. Achim Spiller, Georg-August-Universität Göttingen
Der Handlungsdruck in der Politik steigt: Übergewicht, soziale Schieflage und Klimawandel stehen ganz oben auf der Agenda. Eine Verhaltensänderung muss her und das schnell. Problem: Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Bisher ist die Ernährungspolitik stark geprägt von Ernährungsbildung und Prof. Dr. Achim Spiller hinterfragt zu Recht: „Brauchen wir wirklich noch einen zehnten Flyer?“. Doch wie können wir dann eingreifen und dürfen wir es überhaupt? Ja, sagt Prof. Dr. Spiller, denn es herrscht Marktmacht, Marktversagen, es entstehen hohe Kosten und der Handlungsbedarf ist einfach immens hoch. Und wie immer, gibt es auch hier kein Schwarz oder Weiß. In der Leiter von Entscheidungsunterstützung über Entscheidungslenkung hin zu Entscheidungseinschränkung gibt es viele Grautöne, die unterschiedlich starke Instrumente darstellen. Nudging ordnet sich hier zwischen Entscheidungsunterstützung und -lenkung ein. Gebote und Verbote, die oft als Bevormundung wahrgenommen werden, gehören zum oberen Teil der Leiter. Prof. Dr. Spiller zieht ein Vergleich zum Marketing. Um ein Produkt zu verkaufen, reicht niemals nur eine Maßnahme aus, den Marketing-Mix zu wählen. Ich brauche keine Anzeige schalten, wenn ich nicht dafür Sorge trage, dass mein Produkt gut verpackt am POS verfügbar ist und der Preis stimmt. Es muss ein Marketing-Mix sein, um das Verhalten beeinflussen zu können. Am Beispiel des Rauchens war es schließlich auch die Kombination aus Steuern, Einrichten von Raucherzonen, Labeling und Infokampagnen, die zum Erfolg geführt hat. Es sollte auch in der Ernährungspolitik der Synergieeffekt eines Instrumente-Mix genutzt werden, so der Appell von Prof. Dr. Spiller.
How Sensory Ambient Factors Influence Food Choices
Prof. Dr. Dipayan Biswas, University of South Florida
Dass auch sensorische Aspekte Einfluss auf unsere Entscheidungsarchitektur haben, zeigte Prof. Dr. Dipayan Biswas von der University of South Florida. Er und sein Team untersuchen, wie sich Geruch, Licht, Farben und Geräusche auf unser Verhalten auswirken. So ergaben Studien beispielsweise, dass gedimmtes Licht zu ungesünderem Essverhalten führt, als wenn wir in einem hell erleuchteten Raum sitzen. Oder, dass die Farbe Rot, die für Gefahr steht, uns impulsiver macht und Menschen in einer roten Umgebung eher zu ungesunden Lebensmitteln greifen, als in einem weißen oder blauen Umfeld, das uns eher beruhigt. Prof. Dr. Biswas präsentierte Ergebnisse aus Schulen, wo in einer Mensa mit roten Wänden 75 Prozent der Schüler das ungesunde Gericht wählten, während es die gleichen Schüler in einer Mensa mit blauen Wänden nur zu 55 Prozent taten. Viele weitere beeindruckende Untersuchungen untermauern, dass die Umgebung und das Ambiente, in dem wir uns befinden, maßgeblichen Einfluss auf uns haben.
Fun Fact: Das einzige Land, in dem das Verhalten bei roten vs. blauen Farben nicht funktioniert, ist China. Die Farbe Rot hat hier eine andere Bedeutung. Die Menschen identifizieren sich mit ihrer Landesfarbe so stark, dass diese einen beruhigenden Effekt auf sie hat.
Gesundes Essen leicht(er) machen – smarte Lunchrooms in der Gemeinschaftsgastronomie
Prof. Dr. Gertrud Winkler, Hochschule Albstadt Sigmaringen
Wie Nudging in der Gemeinschaftsverpflegung funktionieren kann, zeigte Prof. Dr. Gertrud Winkler, die mit ihrem Team Fallbeispiele in einer Schulmensa, einer Hochschulmensa und einer Truppenküche durchführte. Mit unterschiedlichsten Maßnahmen wurde hier versucht, den Obst- und Gemüseanteil zu erhöhen, die Wahl des vegetarischen beziehungsweise veganen Menüs zu steigern, den Anteil Vollkornsnacks im Vergleich zu anderen Snacks zu erhöhen und den Wasserkonsum voranzubringen. Schnell wurde in diesem Vortrag deutlich, wie vielfältig die Möglichkeiten an Maßnahmen sind. Zum einen kann das Produkt selbst verändert werden, die Objekte, in denen es serviert wird, und das Umfeld, in denen es ausgewählt und konsumiert wird. In diesen drei Feldern gibt es dann die Möglichkeiten, an den Stellschrauben Verfügbarkeit, Positionierung, Funktionalität, Größe und Information zu drehen Und egal für welchen Maßnahmenmix man sich entscheidet, Prof. Dr. Winkler macht eines deutlich: Es geht nur, wenn man jede Situation vor Ort prüft und individuell betrachtet. Es gibt beim Nudging in der Gemeinschaftsverpflegung keine Pauschalisierung.
Der Stups für die Umwelt: Nachhaltiger Konsum & Nudging
Dr. Juliane Yildiz, Justus-Liebig-Universität Gießen
Nicht nur unsere Gesundheit ist in Gefahr, auch die Umwelt leidet unter unserem Verhalten. Zu hoher Fleischkonsum, aufwendige Verpackungen für stark verarbeitete Lebensmittel, zu viel importierte Produkte zerstören unsere Umwelt, so lautet die Diagnose. Nicht umsonst ist das Thema Nachhaltigkeit weltweit auf der politischen Agenda, die Trumps dieser Welt mal ausgeschlossen. Dr. Juliane Yildiz zeigt auf, welche Möglichkeiten wir beim sogenannten Green Nudging haben:
- Defaults: Wir müssen uns aktiv für „schlechtes“ Verhalten entscheiden. Beispiel: Wenn bei einem Drucker Duplex-Druck voreingestellt ist, spare ich automatisch Papier und müsste mich bewusst für eine Papierverschwendung entscheiden.
- Erhöhung der Salienz: Verstärkung der Auffälligkeit der positiven Entscheidung. Beispiel: Herausstellen der klimafreundlichen Gerichte in einer Mensa. Mir wird deutlich gemacht, mit welchem Gericht ich die Umwelt retten kann.
- Nutzung des sozialen Konformismus: Wir passen uns gerne an und halten uns an vorgegebene Raster. Das kann man nutzen, um Verhalten zu lenken. Beispiel: Eine Möglichkeit wäre im Einkaufswagen Bereiche abzutrennen und sie zu markieren. Der Bereich für Obst und Gemüse wäre entsprechend groß, der für Fleisch kleiner.
Dr. Yildiz macht trotz der recht anschaulichen Beispiele deutlich, wie Komplex das Thema besonders in der Nachhaltigkeit ist. Denn es herrschen Zielkonflikte mit der gesunden Ernährung. So möchte man den Obstkonsum erhöhen, aber wie nachhaltig ist dieser im Winter? Deutlich macht sie auch, dass die Verantwortung nicht nur beim Konsumenten liegen darf. Neben dem Verbessern individueller Entscheidungen muss es auch eine Veränderung innerhalb der Markt- und Rahmenbedingungen geben.
Podiumsdiskussion: Führt Nudging zur „Glücksdiktatur“ oder brauchen wir wirksamere Maßnahmen, damit Gesundheitsförderung gelingt?
Prof. Dr. Hannelore Daniel, Dr. Max Vetter, Dr. Kai Purnhagen, Prof. Dr. Gerd Harzer und Marcus Otto
Wie komplex die Entscheidungsarchitektur ist, beschreibt Prof. Dr. Daniel: „Der Verbraucher steht im Supermarkt vor 40.000 Produkten und soll in kürzester Zeit eine gesunde, nachhaltige, vernünftige Entscheidung treffen.“ Dabei sieht sie an einer ganz anderen Stelle eine Lösung unseres „Adipositas-Problems“. In den letzten 50 Jahren ist unser Energieverbrauch in der Arbeitswelt um 150 kcal pro Tag gesunken. Auch zu Hause verbrennen wir weniger Kalorien, denn hier sorgt der Staubsaugroboter für den flusenfreien Boden und wir müssen selbst nicht mehr ran. Nicht umsonst heißt es: Sitzen ist das neue Rauchen.
Es braucht also ein gewaltiges Bündel an Initiativen, die aktiv werden, um an den diversen Punkten Ernährung, Bewegung und Nachhaltigkeit anzusetzen. „Komplexe Entscheidungen fordern komplexe Maßnahmen und nie einzelne Lösungen“, lautet daher das Schlusswort von Dr. Purnhagen zu den Diskussionen des Tages. Auch Dr. Vetter sieht in der Komplexität nicht das Problem: „Die Aussage, dass die Welt zu komplex ist, ist aus meiner Sicht eine Ausrede. Es gibt Ziele und für die muss es konkrete Maßnahmen geben.“
In der Abschlussdiskussion findet sich ein deutlicher Appell an die Politik: „Die Bereitschaft, in der Politik auch mal zu experimentieren, muss steigen. Es müsste viel mehr ausprobiert werden mit Testmaßnahmen in Deutschland“, so Prof. Dr. Spiller. Prof. Dr. Daniel bringt es, wie so oft, treffend auf den Punkt: „Wir müssen mutiger sein. Let’s do it. Niemand wird sterben an den Maßnahmen.“
Wir stupsen euch jetzt zu einem gesunden Leben im Winter mit unseren besten Tipps „Gesund im Winter“.